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Fotobuch C50.9 G
im KRAUTin-Verlag
erschienen

Photonews Oktober 2023

Buchbesprechung von Dr. Mareike Stoll

Auf dem Cover aus grauer Hartpappe ist oben links eine blaue Markierung eingeprägt. Es ist eine abstrahierte Form, die einem Vogel mit weitgeöffneten Schwingen ähnelt und lädt uns ein, sie mit dem Finger entlang zu fahren und zu ertasten: es ist eine Spur.

Der Titel „C50.9 G“ und der Name der Autorin stehen mit einigem Abstand rechts daneben. In Kombination mit dem Grau, dem geprägten Blau und der Markierung, die zur Spur geworden ist, erschließt sich nicht auf den ersten Blick, wovon das Buch handelt.

 

Also blättern wir weiter: Vorsatzpapier, Schmutztitel und dann die Bildsequenz. Als erstes Bild sehen wir einen Kopf von hinten, unser Blick folgt dem der fotografierten Person, wir blicken somit ins Buch hinein und sehen dann vor allem Fragmente: Hautbereiche, Markierungen auf der Haut, manchmal Haare und setzen all dies über die Leerstellen des Buchs hinweg zu unserem eigenen Bild zusammen: es geht um die bildgewordenen Markierungen einer Krebserkrankung, die sich auf dem Körper einer Betroffenen niederschlagen. Denn der nüchterne Titel „C50.9 G“ ist die medizinische Diagnose, der Code der Weltgesundheitsorganisation für eine Brustkrebserkrankung.

 

Die Spuren zu lesen, die das Buch versammelt, ist nicht ganz einfach. In mehrfacher Hinsicht: Man muss das Buch in die Hand nehmen und durch das Blättern erkunden, um was es geht. Eine andere Hürde beim Lesen der Bilder besteht in der emotionalen Reaktion, die die Betrachter_innen in das Lesen hineintragen: zunächst ist da Angst und oft genug Abwehr, sich überhaupt mit dem Thema zu befassen.

 

In Zusammenarbeit mit Martin Zellerhoff und Alex Hilbert vom Berliner KRAUTin-Verlag ist Annette Rausch ein außergewöhnliches Buch geglückt: weil es verschiedene Ebenen der Reflexion miteinander in Harmonie bringt und die Buchgestaltung den Betrachtenden genug Raum gibt, um sich dazu in Resonanz zu bringen.

 

Es findet Bilder für einen Prozess, der oft im Unsichtbaren des Privaten gehalten wird. (Nicht eigentlich von den Erkrankten selbst, sondern vielmehr von denen anderen, die sich nicht damit auseinandersetzen wollen.) Die Serie wurde 2021 beim 13. Aenne-Biermann-Preis mit einer Auszeichnung bedacht. Daraus ist ein berührendes Buch geworden, das ein Thema behandelt, das Spuren hinterlässt. Der Text im Anschluss an die Bildsequenz stammt von Annette Rausch, die hier ganz bewusst mit Fußnoten gearbeitet hat, um auf andere Texte, Stimmen und Bilder verweisen zu können. Ungewöhnlich genug für ein Fotobuch, wurde die Herausforderung grafisch aufs Überzeugendste gelöst: Die Fußnoten schmiegen sich um den Fließtext und rahmen ihn ein, geben so nicht nur den Worten Halt, sondern auch dem Lesen eine tiefere Dimension.

 

Annette Rausch ist Fotografin, Künstlerin, und sie ist in ihrem Text auch die analytische Autorin, die sich jahrelang mit Gesundheitspolitik auseinandergesetzt hat. Alle Blickpunkte kommen in diesem wichtigen Fotobuch zusammen und machen es zu dem vielschichtigen, leisen aber eindringlichen Buch über Brustkrebs, das zum Ausgangspunkt für Fragen wird und eine Einladung zum Zuhören ist.

 

Indem sie ihren Prozess des Betroffenseins für uns in Bilder und Text übertragen hat, schenkt Annette Rausch uns etwas Großes: die Möglichkeit, uns einem Thema zu nähern, uns wirklich davon berühren zu lassen und mit Anderen ins Gespräch zu treten. Gesellschaftlich brauchen wir dringend ein gemeinsames Nachdenken darüber, wie mit dem Krebs zu leben ist. Das Fotobuch „C50.9 G“ geht mutig die ersten Schritte, um einen Raum zu öffnen, im dem ein solches Nachdenken möglich ist, denn es arbeitet ganz bewusst mit Leerstellen. Dieser Raum um die Bilder ergänzt die Bildsequenz und gibt uns Betrachtenden Ruhe, die Fotografien wirken zu lassen.

 

Fotobücher können wie eine Flaschenpost sein - Etwas, das sich auf den Weg macht. Annette Rauschs „C50.9 G“ ist ein solches Buch.

 

Annette Rausch

C50.9 G

Künstlerinnenbuch, 2023

ISBN 978-3-96703-086-0

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